30 Jahre Deutsche Einheit

Mama, warst du eigentlich 1990 dabei? Wie war das? Fragte mich gestern mein Jüngster. Also begann ich nachzudenken und zu erzählen…

1990 war ich 13 Jahre alt. An diesen 3. Oktober erinnere ich mich noch. Wir waren Wandern gegangen aufs Walberla und Abends haben wir uns das Feuerwerk in Nürnberg angeschaut. Aber so recht beeindruckend war der Tag für mich nicht. Ein schöner Feiertagsausflug mit Feuerwerk zum Abschluss. Ich hatte in der Zeit auch andere persönliche Baustellen zu bearbeiten – so war ich gerade von der Kleinstadt Coburg in die Großstadt Nürnberg gezogen mit Schulwechsel und einem Neuanfang. Wie passend…

Viel eindrücklicher habe ich die Wende um den 9. November 1989 in der DDR erlebt. Als Kind in Coburg lebten wir mit der Grenze. Spaziergänge im Landkreis endeten regelmäßig am Grenzschild. Wir kannten die Namen der Orte, die ganz nah auf der anderen Seite der Grenze lagen, und doch so weit weg. Ich lernte in der Grundschule, dass die Itz, der Fluß durch Coburg, im Thüringer Wald, am Fuße des Bleßberg entspringt. Man konnte den Bleßberg sogar im Landkreis Coburg sehen. Aber trotzdem: ein Ort, der unendlich weit weg erschien.

An Besuche in der DDR selbst kann ich mich kaum erinnern, lediglich an eine Fahrt im Sommer 89 nach Berlin zur Hochzeit meines Cousins. Mein Vater war an den Grenzübergängen sehr angespannt und auch auf der Transitstrecke anders als sonst bei Urlaubsfahrten. Die Mauer in Berlin, die Grenzanlagen dahinter, all das hab ich damals gesehen und konnte es doch nicht fassen und begreifen. Heute bin ich dankbar, dass wir damals diese Reise unternommen haben. Damals empfand ich die Grenze, die Grenzübergänge aber auch die Mauer durch die Stadt als beängstigend.

Und dann kam der 9. November. Und mit ihm die Menschen, die zu uns in den Westen strömten. Auch da konnte ich noch nicht begreifen, was auf einmal geschehen ist. Die Grenze, die da immer war, undurchdringbar erschien, war offen? Die Geschäfte hatten Sonntag geöffnet. Vor den Kaufhäusern standen Schlangen – und immer wenn 20 Leute rauskamen, durften wieder 20 Personen ins Kaufhaus. Die ganze Stadt roch nach Trabbis und war voller Menschen – so voll, wie ich die verschlafene Kleinstadt vorher und nachher nicht wieder gesehen habe.

Am Wochenende kam dann der Anruf aus Weißenbrunn: die Grenze nach Almerswind ist auch offen. Wir fuhren hin und auch wir gingen „rüber“ nach Almerswind. Ich erinner mich noch sehr deutlich an die Grenzanlagen, die wir passieren durften. Hohe Zäune, Wachtürme, Zäune, Schilder „Achtung, Selbstschussanlage!“ , „Halt! Stehen bleiben“ ,“Minen“, Hinweise, die Wege nicht zu verlassen, … und wieder hohe Zäune – und, so meine Erinnerung, direkt nach dem letzten bzw. dem ersten Zaun das Ortsschild und dann das Dorf. An Almerswind erinnere ich mich nicht mehr. Aber an meine Angst, hinter diesen Zäunen eingesperrt zu werden und an meine Angst auf dem Weg durch die Grenzanlagen (auf dem wir viele bekannte und unbekannte Gesichter trafen) – für die Erwachsenen war es eher ein freudiges, fröhliches Erlebnis, mir hat es Angst gemacht. Aber auch für diese Erinnerung bin ich sehr dankbar.

Ich habe damals sehr wohl verstanden, was da gerade geschieht. Ich habe es gesehen, gehört und in der Kleinstadt erlebt. Fassen, was da gerade passiert und was das bedeutet, konnte ich damals nicht. Vielleicht braucht das den Rückblick in die Vergangenheit.

Diesen Sommer hatte ich eine Gelegenheit dazu, diesen Blick vor Ort zu tun und zu sehen und zu fühlen, was damals zu Ende ging und was neu begonnen hat. Unsere Radtour entlang der Nordseeküste fiel Corona zum Opfer und spontan und kurzfristig buchten wir eine Ferienwohnung in Weißenbrunn. Und auf einmal endeten da die Wege nicht mehr an der Grenze. Es war nicht mehr das Ende der Welt. Hier ging es noch weiter. Mehr noch: der nächste größere Supermarkt war in Schalkau/Thüringen (früher ganz weit weg) – der Weg nach Almerswind, den wir damals gelaufen sind, ist heute eine ganz normale Straße. Nichts erinnert mehr an diese Grenze und die Grenzanlagen. Mit der Familie konnte ich – einfach so – zur Itzquelle fahren und auf den Bleßberg wandern, der Berg, den man früher zwar sehen, aber nicht erreichen konnte. Der Berg liegt heute in Thüringen, nicht mehr in der DDR. Ich bin froh und dankbar, dass diese Grenzanlagen, dass der kalte Krieg, dass das Unrecht in der DDR ein Ende gefunden haben – ein Ende ohne Gewalt. Und ich bin froh, dass meine Kinder ohne die Unterscheidung Ost-/Westdeutschland, ohne die begriffliche Unterscheidung in alte und neue Bundesländer aufwachsen. Für meine Kinder sind das Bundesländer, Städte, Orte und vor allem Menschen, wie überall anders auch – und das ist doch dann schon ein Stück von der Deutschen Einheit.

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